56
Lisa hockte am Boden und hielt die Scheidungsklage in der Hand. Die Welle der Depression, die sie immer aufs Neue umspült hatte und wieder abgeebbt war, seit sie in Dublin war, hatte sie endlich unter sich begraben.
Ich bin eine Versagerin, gestand sie sich ein. Ich bin eine kolossale Versagerin. Meine Ehe ist kaputt. Es klang verrückt, aber sie hatte nie wirklich geglaubt, dass es passieren würde. Das sah sie jetzt mit schmerzlicher Klarheit. Das war auch der Grund, warum sie sich keinen Anwalt genommen hatte. In der ganzen Trennungsgeschichte mit Oliver hatte sie sich untypisch verhalten: Normalerweise war sie aktiv und dynamisch. Sie erledigte die Dinge, und zwar prompt. Aber diesmal nicht, warum auch immer.
Nun, jetzt würde sie sich einen Anwalt nehmen müssen.
Aber wenn sie die Augen vor den Tatsachen verschlossen hatte, dann hatte Oliver das Gleiche getan, beharrte sie, damit sie nicht allein die... Dumme wäre. Er war im Januar ausgezogen und hatte eine Wohnung, für die er Miete zahlte, während er gleichzeitig seinen Teil der Rückzahlungen für ihre Wohnung leistete. Das war nicht das Verhalten eines Mannes, der alle Bindungen kappen wollte.
Sie sah sich plötzlich, wie sie so auf dem Boden hockte, in all ihrer Jämmerlichkeit. Sie kam sich albern vor, richtete sich auf- und schon war ihre Energie verpufft. Sie schaffte es bis ins Schlafzimmer, fiel dort ins Bett und zog sich die Decke über den Kopf Als sich die Decke weich und warm um sie schmiegte, gab sie ihren Gefühlen nach und weinte - Tränen des Verlusts, des Versagens und - ja, auch! - des Selbstmitleids. Sie hatte ein Recht darauf, sich selbst zu bemitleiden, verdammt noch mal. Wenn man an all die beschissenen Dinge dachte, die ihr passiert waren. Von Jack zurückgewiesen zu werden - obwohl nicht vergleichbar mit dem Schmerz, Oliver zu verlieren - kam noch zu allem hinzu. Und Mercedes - wenn die eine Stelle bei Manhattan hatte, dann, dann... Na, was würde sie dann tun? Absolut gar nichts. Nie war sie sich ihrer eigenen Machtlosigkeit so sehr bewusst gewesen. Und obwohl sie Trix dauernd bei dem Kaufhaus anrufen ließ, waren ihre Holzlamellen-Jalousien immer noch nicht fertig. Wahrscheinlich würden sie nie fertig werden, wenn das so weiterging.
Das war der letzte Strohhalm. Das damenhafte Schluchzen steigerte sich, bis es ein babyhaftes Brüllen war. »... in schlechten wie in guten Zeiten...«
»... Ashling hat einen schlimmen Schock erlebt...«
»... Sie können die Braut jetzt küssen...«
»... sie hat eine Stelle in New York...«
»... die Fabrik ist für die Sommerferien geschlossen...«
Heulend streckte sie die Hand aus und zog einen Karton Papiertaschentücher zu sich ins Bett.
Die Stunden vergingen, und das Licht vor ihrem Schlafzimmerfenster verblasste zu einem schwachen Rosa. Tiefblau zog die Dunkelheit in ihr Zimmer, dann nachtschwarz mit dem violetten Schein der Stadtlichter. Sie erlaubte sich noch einen gelegentlichen Schluchzer, als die Morgendämmerung mit einem Perlgrau aufzog. Das wich langsam dem klaren, harten Blau eines Septembermorgens. Draußen waren Geräusche zu hören, die zum Tagesbeginn gehörten, aber Lisa zog es vor, da zu bleiben, wo sie war, besten Dank.
Irgendwann - vielleicht war es Nachmittag - wurde ihre wattegleiche Wirklichkeit durchbrochen. Ein Geräusch auf dem Flur, Schritte, und dann schrak sie hoch, als Kathy ihren geschredderten weizenblonden Kopf durch die Tür steckte.
»Was machen Sie hier?« Lisa sah sie aus rotgeränderten Augen an.
»Es ist Samstag«, sagte Kathy. »Ich putze samstags immer bei Ihnen.«
Die zerknüllten Papiertücher auf der Bettdecke, der deutliche Dunsthauch tiefer Niedergeschlagenheit und die Tatsache, dass Lisa voll bekleidet im Bett lag, versetzten Kathy in große Sorge. »Ist alles in Ordnung?«
»Ja.«
Offensichtlich glaubte Kathy ihr nicht. Dann kam Lisa in ihrem Trübsinn eine Idee: »Ich habe die Grippe.«
Sofort war Kathy voller Mitleid. Sollte sie Lisa ein Glas Sprite ohne Kohlensäure bringen, eine heiße Zitrone mit Honig, einen heißen Whisky?
Lisa schüttelte den Kopf und starrte wieder ins Nichts. Eine anstrengende Tätigkeit.
Grippe? fragte Kathy sich. Sie hatte von niemandem sonst gehört, der die Grippe hatte. Aber eigentlich kein Wunder, dass Lisa sich was eingefangen hatte, so wie sie lebte, nämlich in einem Saustall. Kathy fing in der Küche mit ihrer Putzaktion an; sie wischte die klebrigen Flächen sauber - wie schaffte Lisa das nur? - und legte ein Papier zur Seite. Natürlich warf sie einen Blick darauf - sie war schließlich keine Heilige! - und im selben Moment war ihr alles klar. Grippe? Lisa hatte keine Grippe. Gott bewahre: Grippe wäre viel schöner.
Nach einiger Zeit kam Kathy wieder ins Schlafzimmer. »Ich mache hier schnell sauber.«
»Nein, bitte nicht.«
»Aber die Bettwäsche ist schmutzig, Lisa.«
»Das ist mir egal.«
Kathy ging, und Lisa hörte, wie die Tür ins Schloss fiel. Gut. Sie war wieder allein.
Aber nach wenigen Minuten hörte sie, wie die Haustür wieder aufgeschlossen wurde und Kathy mit einer Einkaufstüte ins Zimmer kam. »Zigaretten, Schokolade, ein Rubbellos und eine Fernsehzeitung. Wenn Sie noch was brauchen, sagen Sie einfach Bescheid. Wenn ich nicht da bin, geht Francine. Sie hat gesagt, sie macht es umsonst.«
Normalerweise verlangte Francine ein Pfund, wenn sie für Lisa einkaufen ging.
»Ich gehe jetzt zur Arbeit«, sagte Kathy. »Möchten Sie eine Tasse Tee?«
Lisa schüttelte den Kopf, aber Kathy brachte den Tee trotzdem.
»Stark und süß«, sagte sie bedeutungsvoll, als sie die Tasse auf den Nachttisch stellte.
Lisas Blick wanderte zu Kathys Turnschuhen. Sie waren abgestoßen, aus grauweißem Plastik, und an der Innenseite hatte die Sohle einen Riss. Lisa zerrte ein neues Taschentuch aus dem Karton und presste es sich auf die Augen.
Nachdem Ashling Clodagh den Fehdehandschuh zugeworfen und geschworen hatte, ihr nie zu verzeihen, eilte sie, von unbändiger Wut erfüllt, davon. Nächster Halt Marcus.
Mit starrer Miene ging sie rasch, fast hastig, in die Stadt und schlug den Weg zu Marcus‘ Büro ein. Als sie sich durch die Massen in der Leeson Street schlängelte, stieß sie mit einem Mann zusammen, der, auch im Eilschritt, in die andere Richtung ging und sie heftig an der Schulter anrempelte. Er war schon fort, als Ashling im Zeitlupentempo einen Schritt zurückstolperte und das Echo des Stoßes durch ihren ganzen Körper hindurch spürte. Plötzlich zerstob ihre ganze Wut, zersplitterte wie eine Glaskugel und war nichtig und nutzlos. Der Lärm der Stadt ergoss sich über sie in einem großen Brüllen: hupende Autos, harte, hämische Gesichter. Plötzlich war sie nirgendwo mehr sicher.
Ein Angstbeben durchfuhr sie, und der Wunsch, sich Marcus vorzuknöpfen, war vergessen. Sie könnte sich nicht einmal ein Marshmallow vorknöpfen.
Und überhaupt, was fiel ihr ein, so wütend zu sein? Wut war nicht ihr Stil. Erst zwanzig Minuten waren vergangen, seit sie Clodagh gegenübergesessen hatte, und schon jetzt mochte sie nicht mehr glauben, dass sie tatsächlich so hart mit ihr ins Gericht gegangen war.
Sie hastete nach Hause, sie musste sich schützen. Die Welt hatte sich in ein Hieronymus-Bosch-Gemälde verwandelt: Schmutzige Straßenkinder sangen Lieder, ohne die Worte zu kennen, Paare blickten sich wütend an, weil keiner die Leere des anderen füllen konnte, eine zahnlose Alkoholikerin schrie unsichtbaren Feinden eine Losung zu, Obdachlose lungerten in Hauseingängen, ihre Münder Höhlen der Verzweiflung.
Obdachlose!
Bitte lass Boo weg sein, und bitte mach, dass er mich nicht ausgeraubt hat.
Sie glaubte nicht, dass er das tun würde, aber so wie der Tag bisher gelaufen war, musste sie auf alles gefasst sein.
Er hatte nichts mitgenommen. Ihre Wohnung war ziemlich genau so, wie sie sie verlassen hatte, abgesehen von dem Zettel auf dem Tisch, auf dem er sich bedankte.
Sie legte sich ins Bett. Sie würde sich eine Weile ausruhen und den Schock verdauen.
Aber sie war immer noch im Bett, als Joy sich am Freitagabend mit Ashlings Zweitschlüssel Zugang zur Wohnung verschaffte. Mit sorgenerfüllter Miene stürzte sie ins Schlafzimmer. »Ich hab in der Redaktion angerufen und mit Divine Jack gesprochen. Er hat mir erzählt, was passiert ist. Es tut mir so Leid.« Joy nahm sie in die Arme, und Ashling ließ es, unbeweglich wie ein zusammengerollter Teppich, geschehen.
Eine halbe Stunde später wagte Ted sich vorsichtig in die Wohnung. Er und Ashling hatten seit über drei Wochen, seit Ashling ihn nach seinem Trip nach Edinburgh ausgefragt hatte, nicht miteinander gesprochen.
»Ted, es tut mir Leid«, sagte Ashling matt. »Ich dachte, du hättest eine Affäre mit Clodagh.«
»Wirklich?« Sein dunkles, schmales Gesicht leuchtete erfreut auf. Doch sofort setzte er eine ernste Miene auf. »Ich habe dir einen Karton Taschentücher mitgebracht«, sagte er. »Da steht ›Groovy Chick‹ drauf.«
»Stell sie dahin, neben den Karton, den Joy gebracht hat.«
Als sich der Schlüssel im Schloss drehte, erwachte Lisa halb aus ihrer Benommenheit. Schon wieder Kathy! Aber es war nicht Kathy, es war Francine, Kathys achtjährige Tochter.
»Hallo, Lisa.« Francine schwang ihren kleinen runden Körper ins Schlafzimmer. »Meine Ma sagt, ich soll dir Gesellschaft leisten.«
»Ich will keine Gesellschaft.« Lisa schaffte es kaum, den Kopf vom Kissen zu heben.
»Kann ich das mal ummachen?« Francines Blick war auf eine rosafarbene Federboa gefallen.
»Nein.«
Sie schlang die Boa trotzdem um sich herum und bewunderte sich in dem langen Spiegel, eine pummelige kleine Gestalt in geblümten Leggings und einem gelben T-Shirt.
»Müsstest du nicht in der Schule sein?«, fragte Lisa schlapp.
»Nee.« Francine schüttelte verächtlich den Kopf. »Es ist doch Sonntag.«
Mein Gott, dachte Lisa benommen, ich habe den Überblick über die Tage verloren.
»Aber wenn es nicht Sonntag wäre und ich nicht zur Schule gehen wollte, würde ich auch nicht gehen«, prahlte Francine.
»Aber dann lernst du nichts, und dann kriegst du keinen guten Job.« Lisa war es völlig gleichgültig, ob Francine etwas lernte, aber sie wollte sie sauer machen, damit sie verschwand.
»Ich brauche nichts zu lernen. Ich mache nämlich in einer Girl-Group mit, und mein Da sagt, die sind sowieso alle strohdoof. Hier, soll ich dir mal zeigen, wie ich tanzen kann?«
»Nein. Hau ab und lass mich in Ruhe!«
»Hast du eine Stereoanlage?« Hartnäckig ignorierte Francine Lisas abweisende Haltung. »Nicht? Dann muss ich eben summen. Du musst dir vorstellen, dass ich in der Mitte bin, und auf der Seite von mir sind zwei Mädchen, und auf der Seite auch. Warte mal.« Francine rollte ihr T-Shirt zu einem improvisierten Bustier hoch und entblößte ihren kindlich runden Bauch.
»Was hast du da Goldenes auf dem Bauch?«, fragte Lisa. Plötzlich war sie trotz allem neugierig.
»Mein Bauchnabel-Piercing.« Francine war defensiv.
»Nein, das kann nicht sein.«
»Ich musste es eben malen«, beharrte Francine. »Meine Ma sagt, ich kann mir ein Piercing machen lassen, wenn ich dreizehn bin. - Obwohl, bis dahin bin ich tot«, fügte sie düster hinzu.
Dann riss sie sich zusammen. »Zwei, drei, vier.« Sie schlug mit dem Fuß auf den Boden und gab sich den Einsatz, dann fing sie an zu tanzen. Rechter Ellbogen, nach Art eines flatternden Huhns, zweimal zur Seite, linker Ellbogen zweimal zur Seite. Zwei Hopser auf dem rechten Fuß, zwei Hopser auf dem linken Fuß, dann schwang sie sich, mit einem scharfen Klaps auf den eigenen Po, herum und drehte Lisa ihre Rückseite zu. Während sie immer weiter summte, ließ sie sich mit kreisenden Hüften zum Boden hinab. Eine exotische Bauchtänzerin könnte nicht suggestiver sein. Dann zwirbelte sie sich wieder hoch, machte einen unbeholfenen Hüpfer nach vorn, während ihre Miene allerhöchste Konzentration ausdrückte. »Jetzt kommt das Beste«, versprach sie. »Shimmmmmm-eeeee.«
Sie reckte beide Arme in die Höhe, so hoch sie konnte, ließ ihre Schultern rotieren und machte einen busenfreien Shimmy vor Lisa.
»Tra-rah!« Zum Abschluss versuchte sie einen Spagat, aber sie kam nicht richtig runter.
»Erstaunlich«, sagte Lisa. Erstaunlich war es wirklich.
»Danke.« Francine war atemlos und rot vor Freude. »Natürlich muss ich auch singen. Ich bin die Lead-Sängerin. Da kriegt man mehr Geld. Und ich schreibe die Songs. Da kriegt man noch mehr Geld.«
Lisa nickte, beeindruckt von so viel Unternehmergeist.
»Und die Werbung, die mache ich auch selbst«, versprach Francine. »Da ist nämlich das meiste Geld drin.«
Sie sah Lisa streng an. »Wie ist deine Grippe? Besser?«
»Nein. Geh jetzt!«
»Isst du das Kitkat noch?«
»Nein.«
»Kann ich es haben?«
Erst als Lisa es am nächsten Morgen nicht schaffte, aufzustehen und zur Arbeit zu gehen, wurde ihr richtig bewusst, dass die Sache ernst war. Abgesehen davon, dass sie am Freitag vor Büroschluss nach Hause gegangen war, konnte sie sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal nicht zur Arbeit erschienen war. Hatte sie jemals gefehlt? Sie war immer zur Arbeit gegangen, ganz gleich, ob sie Regelschmerzen, eine Erkältung oder einen Kater hatte oder ob ihre Haare nicht richtig lagen. Selbst in ihren Ferien war sie erschienen. Sie war zur Arbeit gegangen, als ihr Mann sie verlassen hatte - was sollte das also jetzt?
Und warum machte es keinen Spaß?
Sie war immer ein Musterbeispiel der Selbstbeherrschung gewesen und konnte diejenigen nicht verstehen, die zusammengebrochen waren, weinend von ihren Schreibtischen weggeführt wurden und nie wieder zur Arbeit kamen. Aber sie hatte solche Nervenkrisen immer mit perverser Neugier betrachtet und vermutet, dass darin ein Trost lag. Müsste es nicht ein herrlich befreiendes Gefühl sein, völlig hilflos zu sein und keine Wahl zu haben, als sich der Führung anderer zu überlassen?
Nun, anscheinend nicht, denn jetzt erlebte sie, dass sie sich nicht richtig in der Gewalt hatte, und fand es abscheulich.
Sie sollte zur Arbeit gehen. Man brauchte sie dort. Die Belegschaft von Colleen war zu klein, um ein Fehlen von Mitarbeitern zu verkraften, und jetzt war auch Mercedes gegangen und Ashling nicht einsatzfähig. Aber sie konnte sich nicht aufraffen; sie schaffte es einfach nicht. Ihr Körper war zu schwer, ihre Gedanken waren zu schwermütig.
Irgendwann registrierte sie das Bedürfnis, aufs Klo zu gehen. Sie widerstand und tat so, als spürte sie nichts, aber schließlich war der Drang so groß, dass sie gehen musste. Als sie auf dem Rückweg an der Küche vorbeikam, fiel ihr Blick auf die Scheidungsklage auf der Theke. Sie hatte sie seit Freitag nicht angesehen, sie wollte nie wieder einen Blick darauf werfen, und doch wusste sie, dass ihr keine Wahl blieb.
Sie nahm sie mit ins Bett und zwang sich dazu, sie zu lesen. Sie sollte Oliver hassen. Diese Unverschämtheit, sich von ihr scheiden zu lassen! Aber was erwartete sie denn? Ihre Ehe war kaputt, »unwiderruflich zerrüttet«, wenn man das technisch ausdrücken wollte, und das wollte er ja, wie ihr bekannt war.
Die Sprache auf der Scheidungsklage war hochtrabend und unverständlich. Wieder wurde ihr bewusst, wie dringend sie einen Anwalt brauchte und wie beängstigend ahnungslos sie in diesen Dingen war. Sie überflog die Seiten und gab sich Mühe zu verstehen, und das Erste, was sie verstand, war Olivers Antrag auf Scheidung wegen ihres »unzumutbaren Benehmens«. Die Worte sprangen sie an und taten ihr weh. Es war nicht ihre Schuld, dass ihre Ehe zerrüttet war, dachte sie böse. Sie wollten einfach unterschiedliche Dinge. Dieser Dreckskerl! Sie konnte ihm auch ein paar Beispiele unzumutbaren Benehmens an den Kopf werfen, wenn sie sich bemühte. Sie barfuß und schwanger in der Küche anketten zu wollen - wenn das nicht unzumutbar war!
Aber ihr Zorn ließ nach, als ihr einfiel, dass der Vorwurf des »unzumutbaren Benehmens« eine reine Formsache war. Das hatte er ihr bei seinem Besuch in Dublin erklärt - sie mussten dem Gericht einen Grund angeben; genauso gut hätten sie es auch anders herum machen können.
Als sie weiterlas, kam sie zu den fünf Beispielen, so wie er es gesagt hatte. Dass sie neun Wochenenden hintereinander gearbeitet hatte. Dass sie den dreißigsten Hochzeitstag seiner Eltern aufgrund ihrer Arbeitsverpflichtungen nicht beachtet hatte. Dass sie ihren Urlaub auf Santa Lucia in letzter Minute storniert hatte, weil sie arbeiten musste. Dass sie vorgetäuscht hatte, ein Kind zu wollen. Dass sie zu viele Anziehsachen hatte. Jedes Beispiel traf sie wie ein spitzes Messer. Abgesehen von dem Vorwurf mit den Kleidern. Vermutlich war ihm bei Punkt fünf nichts Gutes mehr eingefallen.
Die Kosten würden sie teilen, und beide verzichteten auf Unterhaltsforderungen.
Anscheinend musste sie ein Blatt unterschreiben, auf dem sie den Erhalt der Klage bestätigte, und an Olivers Anwalt zurückschicken. Aber sie würde nichts unterschreiben. Und nicht nur, weil sie nicht willens war, einen Stift in die Hand zu nehmen. Ihr Selbsterhaltungstrieb ging sehr tief.
Es klopfte an der Tür. Das entlockte ihr ein stummes Lächeln. Der Gedanke, dass sie aus dem Bett steigen könnte, war so unvorstellbar, dass er schon komisch war. Es klopfte wieder. Ihr war das vollkommen gleichgültig. Ausgeschlossen, dass sie zur Tür gehen würde. Stimmen vor der Tür. Wieder Klopfen - eher ein durchdringendes Hämmern. Dann ein Quietschen, als der Briefschlitzdeckel angehoben wurde.
»Lisa?«, fragte eine Stimme.
Sie nahm sie kaum wahr.
»Lisa«, rief die Stimme wieder.
Es war überhaupt kein Problem, das Rufen zu überhören.
»Liiiisaaaa«, donnerte die Stimme. Jetzt erkannte sie sie. Es war Beck. Also, das war nicht sein richtiger Name, aber er war einer der kleinen Manchester-United-Fans, der in der Straße wohnte. Der mit der extrem lauten Stimme.
»Ich weiß, dass du zu Hause bist. Ich schwänze heute auch. Hier ist ein riesiges Paket mit Blumen. Willst du sie haben?«
»Nein«, rief Lisa schwach.
»WAS?«
»Nein.«
»Ich höre nichts. Hast du ja gesagt?«
Verärgert hievte Lisa sich aus dem Bett. Himmel, Sack! Ihr ganzes Leben lang war sie stark gewesen. Nie hatte sie sich prämenstruellen Spannungen hingegeben, nie war sie ausgeflippt oder sonst etwas. Und jetzt, da sie sich entschlossen hatte, einen Nervenzusammenbruch zu haben, kamen dauernd Leute und störten sie dabei. Sie riss die Tür auf und brüllte Beck an: »Ich habe NEIN gesagt!«
»Ach so.« Er drückte ihr ein zellophanverpacktes Bouquet in die Hand und huschte an ihr vorbei in den Flur. »Schnell, bevor mich jemand sieht! Ich muss eigentlich in der Schule sein.«
Lisa sah dumpf auf die Blumen. Es waren gute. Keine Nelken oder anderes billiges, einfallsloses Zeug, sondern lauter ungewöhnliche Sachen - eine violette Distel und Orchideen, die aussahen, als kämen sie von einem anderen Planeten. Von wem waren sie? Plötzlich zitterten ihr die Hände, und sie riss den Umschlag auf. Vielleicht von Oliver?
Sie waren von Jack.
Auf der Karte stand nur: »Wir finden Sie großartig. Bitte kommen Sie wieder zur Arbeit!« Aber in plötzlicher Einsicht erkannte Lisa darin eine Entschuldigung. Jack hatte gewusst, dass sie ein Auge auf ihn geworfen hatte, und er war nicht an ihr interessiert. Er wusste, dass sie das wusste. Und sie wusste, dass er wusste, dass sie es wusste, und plötzlich war das alles sowieso ohne Bedeutung. Trotz seines attraktiven Äußeren und seines harten Körpers hätte er ihr den Verstand geraubt. Ihm waren die Dinge, die für sie essentiell waren, nicht wichtig genug. Sie hatte sich mit ihren Fantasien über ihn nur abgelenkt, denn Oliver war derjenige, dessentwegen sie wirklich unglücklich war.
Beck versuchte ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. »Ich will dich was fragen.«
»Was?« Es fiel ihr sehr schwer, das Wort hervorzubringen.
»Kannst du mir helfen, das in mein Haar zu machen?« Aus der Tasche seiner Sweatpants brachte er eine Packung zum Vorschein. Es war Sun-In.
»Erzähl mir bloß nicht, dass du in einer Boy-Group sein willst«, sagte Lisa.
Beck sah sie an und suchte nach dem richtigen Wort. »Du hast wohl ´ne verdammte Meise!«, rief er. »Ich werde Rechtsaußen bei Manchester United.«
»Und dazu brauchst du blonde Strähnen?«
»Mann«, stöhnte er angesichts ihrer Blödheit. »Natürlich!«
»Aber jetzt nicht, Beck. Ich habe die Grippe.«
»Das stimmt gar nicht.« Er war schon auf dem Weg in ihr Bad und drehte sich mit einem verschwörerischen Zwinkern von Schwänzer zu Schwänzer um. »Aber wenn du mich nicht verpetzt, dann verpetze ich dich auch nicht.«
Sie lehnte sich an die Wand und erwog einen Moment lang, ob sie schreien sollte. Dann fügte sie sich einfach in ihr Schicksal. Eine Stunde später verließ ein blond gesträhnter Beck ihr Haus. »Danke, Lisa, du bist echt cool.«
Nachdem er gegangen war, saß sie in der Küche und rauchte. Sie fror und wollte sich eigentlich etwas überziehen, aber immer wenn sie eine Zigarette ausdrückte, zündete sie sich eine neue an.
In dem stillen Zimmer klingelte das Telefon, und das Herz pochte ihr bis zum Hals, ihre Nervenenden standen senkrecht. Der Anrufbeantworter sprang an. Es ging nicht darum, nur manche Anrufe zu beantworten, sondern alle Anrufe auflaufen zu lassen. Aber jede Zelle in ihrem Körper war in Alarmbereitschaft, als Olivers Stimme das Zimmer füllte.
»Babes, ich bin s, ehm, Oliver. Ich dachte, ich ruf mal an wegen der -«
Sie nahm den Hörer auf. »Ich bin‘s. Ich bin zu Hause.«
»He«, sagte er freundlich. »Das hatte ich mir gedacht. Ich habe in der Redaktion angerufen, und da haben sie mir gesagt, dass du zu Hause bist. Hast du, ehm...?«
»Ja.«
»Ich habe Donnerstag und Freitag versucht, dich in der Redaktion zu erreichen, um dir zu sagen, dass es auf dem Weg ist, aber du hattest keine Zeit. Ich habe deiner Sekretärin eine Nachricht für dich gegeben - hast du die bekommen?«
»Nein.« Oder vielleicht doch. Vage erinnerte sie sich, dass Trix ihr am Freitagmorgen einen Zettel geben wollte.
»Und ich hätte auch am Wochenende angerufen, aber ich habe gearbeitet. Verrückter Termin in Glasgow, lauter psychotische Models. Zwanzig Stunden durchgehend.«
»Ist schon in Ordnung.«
»Also, ehm, wir haben ja gewusst, was kommt. Fühlt sich ziemlich blöd an, oder?«
»Naja.« Sie schluckte.
»Aber einer von uns musste es tun.« Er klang sehr verlegen. »Ehrlich gesagt, Babes, ich dachte, du würdest es tun. Ich habe mich schon gefragt, warum es so lange dauert.«
»Viel zu tun.« Sie schluckte wieder. »Neue Zeitschrift und so.«
»Klar! Aber he, ich hab mich echt mies gefühlt, als ich die fünf Dinge aufgezählt habe. Ich meine, Schlechtes über dich zu verbreiten, verstehst du? Also, damals war ich stinkig, aber jetzt nicht mehr - du weißt, was ich meine. Aber das sind die Regeln. Wir sind noch keine zwei Jahre getrennt, und Ehebruch ist ja nicht der Grund für die Trennung, und wir müssen dem Gericht Gründe angeben.«
Lisa war noch nicht so weit, dass sie sprechen konnte. Sie musste warten, bis der Weinkrampf, der in einem verschlossenen Teil in ihrem Inneren ausgebrochen war, verebbte. Wenn sie jetzt den Mund aufmachte, würde alles herausplatzen.
»Lies«, sagte er und klang sehr besorgt.
»Ich...«, brachte sie mühsam hervor, dann überkam sie das Schluchzen.
»He«, beschwichtigte er sie.
»Es ist so traurig«, sagte sie bebend.
»Ich weiß, ich weiß, das brauchst du mir nicht zu sagen.« Nach einer Pause schien Oliver laut vor sich hin zu denken: »Warum komme ich nicht bei dir vorbei? Wir können alles vorbereiten, es klären und so.«
»Du spinnst.«
»Ich spinne nicht. Du musst das so sehen: Wir können beide ein hübsches Sümmchen an Anwaltskosten sparen, wenn wir die Sachen, die mit der Wohnung zu tun haben, untereinander ausmachen. Hast du eine Vorstellung, wie viel es jedesmal kostet, wenn dein Anwalt meinem Anwalt einen Brief schreibt? Jede Menge, ich sage es dir, Lies.«
Er gab nicht nach. »Komm schon, Babes, wir können das alles freundschaftlich regeln. Du und ich. Mano a mano.«
Als sie nichts sagte, fuhr er fort: »Hombre a hombre.«
Mit dem dünnsten Lachen sagte sie schließlich: »Okay.«
»Wirklich? Meinst du es ernst? Wann?«
»Am Wochenende?«
»Du arbeitest nicht?«
»Nein.«
»Sieh an, sieh an«, sagte er in einem Ton, den sie nicht richtig deuten konnte, dann fuhr er in einem leichteren Ton fort: »Ich versuche, einen Flug für Samstag zu bekommen, und bringe den ganzen Kram mit.«
»Ich komme zum Flughafen.«
Nur eine Nacht, versprach sie sich. Eine Nacht, in der sie sich an ihn schmiegen würde, dann würde sie das alles hinter sich lassen.
Sie legte den Hörer auf und war sich nicht sicher, was sie als Nächstes tun sollte. Sie könnte sich wieder ins Bett legen, aber stattdessen wählte sie, einer wilden Eingebung folgend, Jacks Nummer.
»Danke für die Blumen.«
»Keine Ursache. Sie sollten Ihnen nur sagen, dass wir... ich ... den größten Respekt vor Ihnen habe und dass ich -«
»Jack, die Entschuldigung ist akzeptiert«, unterbrach Lisa ihn.
»Ehm, wie meinen S...« Jack brach ab und seufzte. »Gut, danke.«
»Was gibt es aus dem Büro zu berichten?« Es gelang ihr fast, interessiert zu klingen.
Jacks Ton wurde fröhlicher: »Jede Menge guter Sachen. Wir mussten nachdrucken. Ich weiß nicht, ob Sie das gesehen haben, aber am Wochenende waren in fünf Zeitungen Bilder von der Party, und wir haben eine Anfrage bekommen für ein Interview mit Ihnen im Radio. Wir haben vier unaufgeforderte Bewerbungen für Mercedes‘ Position erhalten; Dublin ist eine kleine Stadt. Und ich habe herausgefunden, zu welcher Zeitschrift Mercedes gegangen ist. Nicht zu Manhattan, sondern zu einem Teenie-Blatt - es heißt Froth.«
Vielleicht hatte es damit zu tun, dass Oliver kommen wollte, vielleicht auch mit den guten Nachrichten über Colleen, mit Sicherheit konnte es an der Information über Mercedes liegen, aber etwas in Lisa hatte sich verändert, denn als Jack fragte: »Meinen Sie, Sie kommen wieder zur Arbeit?«, antwortete sie: »Möglich.«
»Gut«, sagte er. »Dann kann ich ja aufhören, diesen Artikel über Hautpflege für Männer zu schreiben.«
»Waas?«
»Trix hat ihn mir aufgedrückt. Da Sie und Ashling nicht in der Redaktion sind und Mercedes gegangen ist, ist sie die Rangälteste beim CW/mi-Team. Die Macht ist ihr zu Kopf gestiegen. Sie überlegt, ob sie Bernard zu einer Gesichtsbehandlung schickt, weil sie sehen möchte, ob er weint.«
»In einer Stunde bin ich da.«
Auf dem Weg zum Bad - sie war lange überfällig für die Dusche - kam Lisa an ihrem Schlafzimmer vorbei und war schockiert. Was hatte sie sich nur dabei gedacht? Sie gehörte einfach nicht zu den Menschen, die ausflippten. Das passierte anderen, und viel Glück dabei. Aber nicht Lisa - sie war eine Kämpferin, ob ihr das gefiel oder nicht. Es war nicht so, dass sie Gefühle von Empfindlichkeit, Einsamkeit und Unglücklichsein nicht kannte. Sie kannte sie sehr gut. Aber Nervenzusammenbrüche waren wie farbige Kontaktlinsen - wunderbar für andere, aber nicht das Richtige für sie.